Anne Karre: Bei einer genaueren Nachlese zum Militärputsch in der Türkei kann man inzwischen zweifelsfrei feststellen, dass es sich um eine reine PR-Aktion des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan handelte. Wie es aussieht, wollte er den aktuellen Pokémon Go Hype für seine ureigenen Machtinteressen instrumentalisieren. Folgt man den bisherigen Zwischenergebnissen, so muss man neidlos anerkennen, dass ihm dies vollends gelungen ist. Zentrales Element seiner ersten Spielvariante an diesem Wochenende war Jagd auf Militär-Pokémon, die er auch überwiegend erlegen konnte. Mit diesem Coup hat er unvorstellbar viele Punkte machen können.
Waren wir anfangs noch davon ausgegangen, dass es sich zu Beginn des Putsches um einen direkten satirischen Schlagabtausch zwischen Jan Böhmermann und Recep Tayyip Erdoğan handelte, wurden wir im Verlauf der blutige Aktion schnell eines Besseren belehrt. Alles sah zunächst nach einer maßlosen Übertreibung von Jan Böhmermann aus, bis wir zu unserem Entsetzen feststellen mussten, dass der mit diesen Vorgängen rein gar nichts zu tun hatte.
Nach inzwischen ungesicherten Erkenntnissen handelt es sich bei diesem Spielchen um den weiteren Karriereweg des Erdoğan zum Alleinherrscher und Nationalheiligen des neuen osmanischen Reiches. Ob er den inzwischen reichlich angestaubten Propheten in Sachen Islamisierung der Welt noch zu übertreffen gedenkt, steht zur Stunde noch in den Sternen. Vieles deutet aber darauf hin, dass er irgendwann zur Krönung seiner Karriere auf eine ähnliche Position hinarbeitet. Darauf lässt zumindest der interne Arbeitstitel des inszenierten Putsches schließen, der nach ebenso unbestätigten Angaben lautete: Gülen No – Erdoğan Go. Bei Fethullah Gülen … [Wikipedia] handelt es sich um einen Mann, der sich aufgrund dieser altbekannten Männerfeindschaft in der Türkei rar gemacht hat und derweil in den USA exiliert.
Inzwischen lernen wir sogar aus den vielen internationalen positiven Stimmen zur Niederschlagung des Putsches aus der politischen Landschaft, dass demokratisch an die Macht gekommene Diktatoren zu stützen (nicht zu stürzen) sind. So jedenfalls nimmt sich das allgemeine Konzert der Politiker-Kommentare aus aller Welt aus. Für Adolf Hitler kommt diese Solidarität natürlich um Jahrzehnte zu spät und lässt damit leider erheblich eher Rückschlüsse darauf zu, wie sehr andere Politiker den Erdoğan derzeit um seine Machtfülle beneiden, obgleich die Umsetzung dieses Putsches wirklich dilettantisch war: Tageskommentar … [Egon Kreutzer]. Das lässt nämlich die Frage im Raume stehen, ob das türkische Militär tatsächlich so saublöd ist und die Kräfteverhältnisse nicht einschätzen kann, dann sollte man es besser aus der NATO entfernen, oder ob Erdoğan & Vasallen keinen größeren Teil des Militärs für einen solchen Blödsinn gewinnen konnte. Dass die Sache zum Himmel stinkt, schmälert das Punktekonto des Initiators oder Nutznießers offenbar nicht.
Demzufolge fühlt sich der Potentat Erdoğan in seiner Vorgehensweise vollends bestätigt, was weiterhin darauf schließen lässt, dass er dieses Spiel weitertreiben wird. “Erdogan Go” dürfte in der nächsten Runde die detailreiche Jagd auf Richter-Pokémon bedeuten. Mit dieser Klientel hat er ohnehin noch eine größeres Hühnchen zu rupfen, denn die Richterschaft brachte ihn vor Jahren, für seine lyrischen Rezitationskünste, eine Weile in den Knast. Jetzt hat er den Spieß und das Spiel endlich umdrehen können und wird reihenweise die Richter einknasten. Das wird die Restwelt zwar nicht sonderlich lustig finden, da er aber demokratisch gewählt wurde, lässt sich da leider nichts ändern.
Die Hatz auf “Journalisten-Pokémon” darf man dabei eher als experimentelle Vorstufe zu der nun angelaufenen Erdogan Go Spielreihe betrachten. Dies wiederum kann man daraus schließen, dass man Sätze wie die folgenden findet: „Wir werden mit denen (Putschisten) umgehen, wie mit Terroristen“! Das wiederum spräche auch für eine Internationalisierung der Jagd auf alle von Erdogan auserkorenen “Ziele”. Spätestens unter der Flagge der Terrorbekämpfung sind sich die meisten Staaten ohnehin wieder einig, dass der zu bekämpfen sei. Bei der Deklaration von “Terror” ist man in den letzten Jahren immer weniger zimperlich. Auf lange Sicht könnte eine Mehrheit der Bürger in vielen Staaten in diese Rubrik einsortiert werden, sofern sie es ihren Vertretern gegenüber am nötigen Respekt und Gehorsam mangeln lassen.
Wenn weiterhin alles nach Erdoğan-Plan verläuft, wovon man zur Stunde ausgehen kann, er sein Spiel weiterhin mit der wohlwollende Zustimmung der breiten Mehrheit der Türken treiben kann (Wiederwahl), dürfte das nächstgrößere Event sein, dass er endgültig seinen Volks-Führer-Schein bekommt. Ab dem Moment wird es kein Halten mehr geben und die Türkei könnte mit der Rückverbindung von Staat und Kirche zum nächsten Gottesstaat in der Region mutieren. Selbstverständlich unter der sachkundigen Führung des Kalifen Erdoğan. Mit dieser Putsch-Nummer hat er sich einen satten Punktevorsprung erballert, den etwaige Wettbewerber kaum mehr aufholen können, sofern es in absehbarer Zeit überhaupt noch Wettbewerber für ihn geben wird.